Bundestagsrede: Kluft zwischen armen und reichen Kommunen wird größer

11. September 2020

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Januar haben wir eine Große Anfrage zur finanziellen Situation der Kommunen in Deutschland eingebracht. Die Antwort der Bundesregierung zeigt ganz deutlich, dass sich die Kluft zwischen reichen und armen Kommunen in den vergangenen Jahren weiter vergrößert und weiter verschärft hat, und das trotz der damaligen guten konjunkturellen Entwicklung. Die wirtschaftlich gute Lage der letzten Jahre hat somit nicht dazu geführt, dass sich arme Kommunen an reiche annähern konnten. Es bestehen weiterhin sehr große Unterschiede. Jede fünfte Kommune in Deutschland hat 2018 bereits unter einem Haushaltssicherungskonzept arbeiten müssen. Damit lebt ein Viertel aller Bürgerinnen und Bürger in einer solchen Kommune. Eine Entwicklung hin zu einer Zweiklassengesellschaft der Kommunen ist unübersehbar.

Laut dem Kommunalpanel der KfW aus dem Jahr 2020 – also ganz aktuelle Zahlen – besteht immer noch ein öffentliches Investitionsdefizit von 147 Milliarden Euro, davon fehlen allein 44 Milliarden Euro in Schulen und 10 Milliarden Euro in Sportstätten.

(Otto Fricke [FDP]: Was haben die Länder da nur gemacht?)

Meine Damen und Herren, was heißt das konkret für die Menschen vor Ort? Das bedeutet, dass jährlich fast 80 Schwimmbäder schließen.

(Otto Fricke [FDP]: Das stimmt doch gar nicht!)

Wir sehen schon jetzt die Konsequenzen: Immer weniger Kinder im Grundschulalter können schwimmen. – Das bedeutet auch, dass die Digitalisierung an Schulen nicht schnell genug vorangeht, und gerade jetzt in der Coronakrise brauchen unsere Schülerinnen und Schüler doch Laptops und digitale Kenntnisse, um nicht zurückzufallen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])

Für Kunst und Kultur, für Jugendpolitik und sogenannte freiwillige Leistungen fehlt häufig das Geld vor Ort.

Die Große Anfrage zeigt auch, dass sich die Regionen sehr ungleich entwickeln. Ungleichheiten bestehen zwischen Ost und West, Nord und Süd, aber auch zwischen Stadt und ländlichen Räumen.

Besonders auffallend sind die Unterschiede bei den Altschulden. Der Bestand der Kassenkredite liegt immer noch bei 40 Milliarden Euro. Die Kommunen von drei Bundesländern sind ganz besonders betroffen. Dort gibt es große Strukturbrüche, das wissen wir alle. Eine Debatte darüber nach dem Motto „Die sind doch selbst schuld!“, meine Damen und Herren, muss man in aller Deutlichkeit zurückweisen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Jeder und jede, der bzw. die diese Städte, diese Regionen und diese Bundesländer kennt, weiß, dass das an den großen Strukturbrüchen in Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz oder dem Saarland liegt.

(Otto Fricke [FDP]: Und woanders gab es die nicht?)

Die Bundesregierung stellt fest: Hoch mit Kassenkrediten belastete Kommunen werden absehbar nicht hinreichend in der Lage sein, ihre finanzielle Situation dauerhaft zu verbessern. – Das ist so, meine Damen und Herren. Und was folgt daraus? Ja, der Bund hat in den letzten Jahren immer wieder unterstützt, hat Gelder bereitgestellt und an vielen Stellen sicherlich punktuell Erleichterungen verschafft und hilfreiche Unterstützung geleistet. Aber Kommunen brauchen eine strukturelle Entlastung, meine Damen und Herren. Wir wissen, dass wir in der nächsten Woche

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE] – Zuruf des Abg. Matthias Hauer [CDU/CSU])

– hoffentlich gemeinsam, Herr Hauer – darüber beraten, was wir als Bund angesichts der Gewerbesteuerausfälle aufgrund der Coronakrise tun können. Es wird auch darum gehen, wie wir als Bund bei den sozialen Kosten, zum Beispiel den Kosten der Unterkunft, ein Zeichen setzen können.

Aber ich habe kein Verständnis, meine Damen und Herren, warum Sie bei der Altschuldenhilfe nicht in der Lage sind, ein deutliches Signal zu senden und zu helfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE] – Zuruf des Abg. René Röspel [SPD])

Wir brauchen eine Altschuldenhilfe für die Kommunen. Dass Sie nicht die Größe hatten, eine entsprechende Vereinbarung zu treffen, kann ich nicht verstehen. Bund, Länder und Kommunen müssen eine solche Altschuldenhilfe auf den Weg bringen.

Wir brauchen einfachere Förderprogramme, mehr Übersichtlichkeit für Kommunen. Und wir brauchen eine Gemeindefinanzreform, die den Namen auch verdient und durch die Kommunen nachhaltig entlastet werden, statt eines Hin- und Hergeschiebes der Verantwortung zwischen Bund und Ländern. Wir sind alle dafür verantwortlich, dass wir ein lebendiges Gemeinwesen haben.

Vielen Dank.