Zeit für Mehr – Recht auf Ganztag für Grundschulkinder
2. September 2019
Autorinnenpapier von Katja Dörner MdB, Margit
Stumpp MdB, Britta Haßelmann MdB, Corinna Rüffer MdB und Ekin Deligöz MdB
Anforderungen an die Umsetzung eines
Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder im SGB VIII
Egal wo Kinder in Deutschland aufwachsen, sie sollen in allen
Schulen und Hortangeboten gute Bedingungen vorfinden: motivierte Lehrerkräfte
und ErzieherInnen, erreichbare SozialarbeiterInnen, funktionierende Toiletten
und nutzbare Turnhallen, vielfältige Bildungs- und Freizeitangebote bis in den späten
Nachmittag, gute Mahlzeiten und Raum für Spiel und Bewegung. Das rot-grünen
Ganztagsschulprogramm „Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB)
war ein Meilenstein. Mit ihm konnte der Ausbau zu Beginn des Jahrtausends einen
wichtigen Schritt voran gebracht werden. Die Chancen auf ganztägige Bildung und
gute Betreuung sind aber auch über 10 Jahre danach noch immer ungleich
verteilt. Während in Hamburg oder Berlin der Schlussgong schon lange nicht mehr
zur Mittagszeit erklingt, besucht in Bayern nicht mal jedes fünfte Kind eine
Ganztagsschule. Behinderte Kinder sind deutschlandweit häufig von solchen
Angeboten ausgeschlossen. Obwohl sich die meisten Eltern ein Ganztagsangebot
für ihre Kinder wünschen, steht bislang für nicht einmal die Hälfte der Kinder
im Grundschulalter ein solches Angebot zur Verfügung. Für die Familien ist es
zu Recht völlig unverständlich, dass es einen Rechtsanspruch auf einen
Ganztagsplatz in der Kita gibt, mit dem Schuleintritt aber vielerorts keine
Betreuung am Nachmittag zur Verfügung steht. Das widerspricht dem berechtigten
Bedürfnis von Kindern nach Kontinuität und vieler Eltern, Familie und Beruf
unter einen Hut zu bekommen.
Eine neue Dynamik beim Ausbau ganztägiger Bildungs- und
Betreuungsangebote ist nicht nur nötig, um gleichwertige Lebensverhältnisse in Punkto
Vereinbarkeit von Familie und Beruf zur erreichen. Es profitieren vor allem die
Kinder. Die Bildungsforschung konnte längst nachweisen, dass gute Ganztagsangebote
einen positiven Einfluss auf die psychosoziale Entwicklung haben. Sie fördern
die Motivation und stärken das Selbstvertrauen. Verzahnte Lern- und
Freizeitangebote sind damit ein wichtiger Schlüssel für mehr
Bildungsgerechtigkeit. Ganztägige Angebote haben das Potenzial, von der
Sprachförderung bis zur Hausaufgabenhilfe bessere individuelle Betreuung zu
ermöglichen. Sie verstärken außerdem die integrative Kraft der
Schulgemeinschaft. Das verändert die Lernkultur und sorgt für ein besseres
Schulklima. Mehr Zeit in Schule oder Hort eröffnet auch Räume für mehr
Beteiligung von Schülerinnen und Schülern im Schulalltag. Ungleiche
Startchancen können so leichter ausgeglichen werden.
Deshalb ist es gut, dass
die Diskussion um die Einführung eines Rechtsanspruchs im SGB VIII endlich an
Fahrt aufnimmt. Wer glaubt, es reiche, lediglich die Betreuungszeiten
auszuweiten, irrt sich gewaltig. Die positiven Effekte ganztägiger Angebote
sind keineswegs ein Selbstläufer. Sie setzen im Gegenteil eine hohe Qualität
der Angebote, ein gutes Zusammenspiel von Lehrkräften, ErzieherInnen und
anderen sozialpädagogischen Fachkräften voraus. Nicht zuletzt braucht es Räume,
in denen Kinder gerne ganze Tage verbringen. Eine Diskussion um die eine, richtige
Form des Ganztags ist nicht zielführend. Es gibt hervorragende gebundene
Ganztagsschulen mit rhythmisiertem Angebot genauso wie sehr gute Kooperationsmodelle,
in denen Grundschule und Träger der Jugendhilfe das Beste aus beiden Welten
erfolgreich zusammenbringen. Was am Ende zählt ist, dass sich die Kinder frei
entwickeln und gut aufgehoben fühlen.
Ganztag muss
verlässlich sein
- Ein Rechtsanspruch muss für die Dauer der
Grundschulzeit mindestens 8 Stunden täglich umfassen. Für die Randzeiten und Ferien
müssen zusätzliche Betreuungsangebote zur Verfügung gestellt werden.
Rechtsanspruch gilt
für jedes Kind und muss inklusiv ausgestaltet sein
- Nur wenn alle Kinder teilhaben können, können
ganztägige Angebote ihr Versprechen von Bildungs- und Chancengerechtigkeit
einlösen. Ein Rechtsanspruch sollte deshalb bedarfsunabhängig formuliert sein
und nicht mit der verfügbaren Zeit der Eltern in Zusammenhang stehen. Damit jedes
Kind vom Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung profitieren und an allen
Angeboten teilnehmen kann, müssen diese inklusiv und barrierefrei konzipiert
werden. Ziel sollte sein, dass möglichst wenige Kinder zusätzliche Unterstützung
brauchen. Darüber hinaus muss der Anspruch auf IntegrationshelferInnen überall
gelten – egal ob gebundene offene Ganztagsschule oder Hortangebot durch die
Jugendhilfe. Bei Bedarf sollen Therapien in der Schule ermöglicht werden, damit
eine zusätzliche Belastung der Kinder und ihrer Familien durch außerschulische
Termine und Fahrten vermieden wird. Den Eltern dürfen keine zusätzlichen Kosten
entstehen, die nur durch die Behinderung des Kindes bedingt sind
Mit Mindeststandards
Qualität sichern
- Ganztägige Angebote können einen großen Beitrag
dazu leisten, ungleiche Startchancen von Kindern auszugleichen und für mehr
Bildungsgerechtigkeit zu sorgen. Doch dafür müssen sie gut sein. Anders als
beim Kitaausbau, sollte bei der Einführung eines Rechtsanspruchs auf
Ganztagsbetreuung in der Grundschule Qualität von Anfang an mitgedacht werden. Dazu
gehören bspw. angemessene Fachkraft-Kind-Schlüssel oder Mindestvorgaben für die
Qualifikation der Fachkräfte und der räumlichen Ausstattung.
Verschiedene
Formen der Ganztagsbetreuung müssen möglich sein
- Ein Rechtsanspruch sollte sich auf die
Gesamtförderungs- und Betreuungszeit von Kindern in der oder den Einrichtungen
beziehen und nicht nur auf die Förderung und Betreuung außerhalb der Schulzeit.
So könnte der Rechtsanspruch in gebundenen oder offenen Ganztagsschulen ebenso
erfüllt werden, wie in Horten oder in der Tagespflege. In welcher Form der
Rechtsanspruch erfüllt wird, sollte der Bund nicht vorgeben.
Schule und
Jugendhilfe – gemeinsam stark für die Kinder
- Ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im SGB
VIII bietet die Chance, dass das Beste aus den Systemen Schule und Jugendhilfe
zusammengedacht wird. Dafür ist eine gute Zusammenarbeit zentral. Angebote der
Kinder- und Jugendhilfe dürfen nicht nur Ausfallbürge oder Dienstleister für die
Schule sein. Vielmehr muss eine verbindliche Kooperation auf Augenhöhe das Ziel
sein. Mit analogen Kooperationsverpflichtungen im Schul- und Jugendhilferecht
kann die Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe verbindlich geregelt werden.
Um in der Praxis ein gemeinsames Bildungsverständnis zwischen Schule und
Jugendhilfe und eine gute Kooperation in multiprofessionellen Teams zu
entwickeln, könnte eine Koordinationsstelle, die Schulentwicklungsprozesse
steuert, hilfreich sein. Dies könnte in Anlehnung an die Fachberatung in der
Kindertagesbetreuung als Bundesprogramm initiiert werden. Für ein gutes
Miteinander sorgen nicht zuletzt vergleichbare und sichere
Angestelltenverhältnisse für all diejenigen, die tagtäglich unter einem Dach zusammen
arbeiten.
Ganztag braucht
Fachkräfte
- Ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung kann durch
die Kommunen nur eingelöst werden, wenn es genügend Fachkräfte gibt. Erzieherinnen
und Erzieher werden bereits heute vielerorts händeringend gesucht. Deshalb braucht
es vor Inkrafttreten des Rechtsanspruchs dringend eine gemeinsame Fachkräfteoffensive
von Bund, Ländern und Kommunen. Das Schulgeld für die Ausbildung zum Erzieher
oder zur Erzieherin muss abgeschafft werden. Mittelfristig soll die Ausbildung
vergütet werden, denn dies ist entscheidend für ihre Attraktivität. Beispielhaft
ist hier die praxisintegrierte Ausbildung (piA). Gerade in der Konkurrenz mit
anderen Ausbildungsberufen können sich Ausbildungsberufe nur dann durchsetzen,
wenn sie von Anfang an mit einer Vergütung verbunden sind. Gleichzeitig ist es
notwendig, eine Kampagne zur Aufwertung des Erzieherberufs zu starten und über
ein entsprechendes Gesundheitsmanagement dafür Sorge zu tragen das die
Fachkräfte in der Frühen Bildung auch im Beruf gehalten werden. Weiterentwicklungsperspektiven
machen den Beruf attraktiver. Weiterbildungs- und Aufstiegsförderung müssen
deshalb passgenau verbessert werden. Und Weiterbildung und Qualifizierung muss
sich schließlich auch monitär lohnen und tariflich abbilden. Bezahlte Auszeiten
für Fort- und Weiterbildung sowie Aufbaustudiengänge sollen gesetzlich
verankert werden.
Bundesinvestitionen
müssen bedarfsgerecht und zielgenau sein
- Bei der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsbetreuungsplatz für ein- bis dreijährige Kinder wurden die tatsächlichen Bedarfe völlig unterschätzt. Die Folge waren große finanzielle Herausforderungen für die Kommunen und der Versuch diese durch zeitlich begrenzte Bundesprogramme zu kompensieren. Dieser Fehler darf nicht wiederholt werden, denn mit einem nicht einlösbaren Rechtsanspruch ist den Kindern und Eltern nicht gedient. Deshalb braucht es vor Inkrafttreten des Rechtsanspruchs dringend eine realistische Bedarfs- und Kostenanalyse sowie verlässliche Finanzierungszusagen. Personal-, Betriebs- und Investitionskosten müssen fair zwischen Bund, Ländern und Kommunen aufgeteilt werden. Klar ist, dass der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule ein gesamtstaatliches Projekt ist. Deshalb stehen auch alle staatlichen Ebenen in der Pflicht, die Umsetzung des Rechtsanspruchs gemeinsam zu finanzieren.
Alle Akteure an einen
Tisch
- Bund, Länder, Kommunen, Schulen, Jugendhilfe, Träger
der Eingliederungshilfe, Eltern und nicht zuletzt Kinder. An der Umsetzung ganztägiger
Bildung und Betreuung im Grundschulalter sind viele beteiligt. Nur wenn
frühzeitig alle Akteure einbezogen werden, kann die Umsetzung des
Rechtsanspruchs gelingen. Der Krippengipfel von 2007 kann hier Vorbild sein. Es bedarf nicht nur der Verständigung
auf ein gemeinsames Ziel sondern auch auf ein Ausbau Szenario, in welchem
zeitlich zu erfolgende Ausbauschritte bzw. –optionen festgelegt werden.