18. Februar 2020
von Britta Haßelmann und Anna Christmann
Vor 100 Tagen wurde das Ergebnis des Bürgerrates Demokratie an die Bundespolitik übergeben, geschehen ist bisher jedoch nichts. Der Impuls von den zufällig gelosten Bürger*Innen für mehr Beteiligung verdient Wertschätzung und muss im Bundestag aufgegriffen werden. Es braucht einen Aufbruch für mehr Bürgerbeteiligung auf Bundesebene.
Mehr Bürgerbeteiligung, mehr Partizipation und die Frage von Volksentscheiden werden seit Jahren diskutiert. In der Debatte geht es darum, unsere parlamentarische Demokratie um Elemente direkter Demokratie zu ergänzen. Alle Initiativen, die bislang diskutiert wurden, um mehr und direktere Mitbestimmung auch auf Bundesebene einzuführen, fanden im Bundestag bislang keine Mehrheit. Dabei haben wir auf Landesebene und kommunaler Ebene längst Beteiligungselemente für Bürgerinnen und Bürger verankert und damit auch positive Erfahrungen in der Praxis gesammelt.
Warum also nicht auch auf Bundesebene mehr Beteiligung wagen?
Zwar kündigt die Koalition aus Union und SPD noch in ihrem Koalitionsvertrag an, eine Expertenkommission einzusetzen „die Vorschläge erarbeiten soll, ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden kann“. Doch ganz offenkundig fehlt Union und SPD dazu der Mut. Denn selbst dieser kleine, erste Schritt aus dem sich hätte etwas entwickeln können, ist bis heute nicht umgesetzt worden. Es gibt nicht einmal einen Zeitplan, ob überhaupt noch und wenn ja, wann die angekündigte Expertenkommission eingesetzt beziehungsweise noch tagen soll. Ungeklärt ist auch, ob überhaupt die Absicht bestünde, auch Bürgerinnen und Bürger dabei einzubinden. Niemand weiß Genaues.
Mehr Bürgerbeteiligung bleibt für SPD und Union ein Lippenbekenntnis und spielt offenbar keine Rolle. An Impulsen oder neuen Formaten wie Jugendräten, Zukunftsräten oder zufällig gelosten Bürgerräten zeigt man kein Interesse. Aus Antworten der Bundesregierung geht hervor: Man gibt sich mit dem Status quo der Bürgerbeteiligung zufrieden. Mit dieser Auffassung steht die Koalition ziemlich allein da.
In der Bundesregierung gibt es nicht einmal eine verantwortliche Person, die sich für Bürgerbeteiligung zuständig fühlt. Das Innen- und Justizministerium schieben sich die Verantwortung für die nicht zustande gekommene Expertenkommission Bürgerbeteiligung wechselseitig zu. Eine starke Stimme für mehr Demokratie sieht anders aus.
Dabei bräuchten wir gerade in diesen Zeiten ein engagiertes Plädoyer aller Demokrat*innen für unsere parlamentarische Demokratie, unser Grundgesetz, unseren Rechtsstaat, unsere lebendige Zivilgesellschaft und unsere weltoffene, vielfältige Gesellschaft. Wir brauchen die Offenheit mit Initiativen, Verbänden, NGOs und Bürger*innen über Zukunftsherausforderungen, über notwendige Veränderungen, über komplexe Fragen, Interessenskonflikte, über unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Bekämpfung der Klimakrise und politische Abwägungen und Entscheidungen zu diskutieren. Dialog, Diskursfreude und eine Offenheit für Einmischung und mehr Beteiligung täten gut. So bleibt Politik erreichbar, wird politisches Handeln transparenter und werden Entscheidungen nachvollziehbarer. So stärkt man auch Vertrauen in Politik.
Ein zivilgesellschaftliches Bündnis hat im letzten Jahr die Sache selbst in die Hand genommen. Mit wissenschaftlicher Begleitung und unterstützt von professionellen Agenturen hat der Verein Mehr Demokratie einen Bürgerrat zu der Frage, wie wir unsere Demokratie weiterentwickeln wollen, eingesetzt. Es wurden Regionalkonferenzen organisiert.160 zufällig ausgewählte Menschen aus dem gesamten Land haben gemeinsam über neue Instrumente als Ergänzung für unsere parlamentarische Demokratie diskutiert. Das daraus entstandene Gutachten wurde am Ende des Prozesses an den Präsidenten des Deutschen Bundestages übergeben. Das ist 100 Tage her, die Koalition hat bisher nicht nennenswert gehandelt. Das Parlament sollte diesen Impuls für mehr Demokratie wertschätzen und sich mit den Empfehlungen beschäftigen. Es ist gut, dass auch Wolfgang Schäuble sich bei der Übergabe des Bürgergutachtens dafür ausgesprochen hat.
Auch der Vorschlag einer Stabsstelle Bürgerbeteiligung wäre ein kleiner aber wichtiger Schritt, Beteiligungsinstrumente z. B. auch im Gesetzgebungsverfahren zu verankern. Hier hat Baden-Württemberg mit Gisela Erler als Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung sehr gute Erfahrungen gemacht.
Auch wenn über zwei Jahre nach der Bundestagswahl trotz der Absichtserklärung von Union und SPD zu mehr Beteiligung und Partizipation bislang nichts passiert ist, kann das Parlament das nun vorgelegte Bürgergutachten und das Interesse von Verbänden, Stiftungen und Initiativen zum Anlass nehmen, aktiv zu werden und wenigstens die Debatte über ein Für und Wider von mehr Beteiligung und Partizipation zu beginnen. Das Bürgergutachten einfach in einer Schublade verschwinden zu lassen, wäre ein falsches Signal. Was hindert Union und SPD das zu tun? Wir brauchen endlichen einen Aufbruch für mehr Bürgerbeteiligung auf Bundesebene.