24. September 2015
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Liebe Mitwirkende im Aktionsbündnis „Für die Würde unserer Städte“! Ich finde es gut, dass wir heute diese Debatte führen. Diese Debatte haben wir mit Ihnen innerhalb der Fraktionen im Februar geführt. Viele von uns haben diese Debatte schon über Jahre hinweg geführt; denn das Aktionsbündnis gibt es nicht erst seit diesem Jahr. Wir haben uns mit Ihnen darauf verständigt, heute über die Lage der Kommunen zu diskutieren. Ich finde es richtig, dass alle Fraktionen übereingekommen sind, dies auch zu tun.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Herr Liebing, beginnen wir gleich einmal damit: Die Welt ist nicht so einfach, dass man in ein kleines Nordrhein-Westfalen-Bashing eintreten kann, wenn man über Disparitäten bei der Lage der Kommunen redet.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das sowieso niemals!)
Das haben wir Ihnen in den vergangenen Jahren immer wieder versucht beizubringen. Leider haben Sie das bis heute immer noch nicht verstanden. Das wird heute vielleicht mit nicht so viel Verve vorgetragen, weil Gäste da sind. Ich will Ihnen aber sagen: Weder Cuxhaven noch Ludwigshafen, noch Mainz, noch Salzgitter, noch Saarbrücken, noch Neuwied liegen in Nordrhein-Westfalen. Das sind jedoch Mitglieder dieses Aktionsbündnisses.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Und die Mitglieder dieses Aktionsbündnisses beschreiben eine Situation, die seit Jahren vorherrscht, sehr präzise. Sie beschreiben die Disparität, die unterschiedliche Entwicklung der Kommunen in Richtung einer Zweiklassengesellschaft. Es gibt prosperierende Kommunen und strukturschwache Kommunen,
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die sind alle rot-grün regiert! – Gegenruf der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Cuxhaven?)
in denen sich die Probleme kumulieren, die aufgrund einer hohen Arbeitslosenquote oder aufgrund von Strukturreformen – ich denke zum Beispiel an das Ruhrgebiet – mit hohen Kosten konfrontiert sind. Deshalb können wir längst nicht mehr von den Kommunen reden. Wir haben längst eine Zweiklassengesellschaft. Gut 60 Kommunen haben sich zusammengefunden in einem Aktionsbündnis der armen Städte, um ihre Bedürfnisse zu formulieren und zu artikulieren. Das ist ihr gutes Recht; denn sie vertreten 10 Millionen Bürgerinnen und Bürger.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Schauen wir uns die Entwicklung an: Wir wissen, dass wir eine kommunale Verschuldung in Höhe von 135 Milliarden Euro haben; und bitte hören Sie auf, das im Sinne einer Farbenlehre einzelnen Bundesländern zuzuschreiben.
(Alois Karl [CDU/CSU]: Das tut weh, was? Das ist unangenehm, was?)
135 Milliarden Euro kommunale Verschuldung – das zeigt mir, dass es ein Fehler ist, dass bei den Bund-Länder-Finanzbeziehungen die Kommunen bisher keine Rolle spielen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Bernd, du hast das gerade auch angesprochen. Warum finden wir nicht die Kraft, im Rahmen der Neuverhandlungen der Bund-Länder-Finanzbeziehungen endlich auch über einen Altschuldenfonds zu diskutieren?
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir geben eh schon 5 Milliarden aus Bayern!)
Das wäre eine gute Gelegenheit, quasi ein Korridor, um darüber zu sprechen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Jede und jeder, die bzw. der sich damit auskennt, weiß, dass die Länderentschuldungsfonds und -stärkungspakte nicht ausreichen, um diesen großen Berg an kommunaler Verschuldung – 135 Milliarden Euro plus x – abzutragen. Wenn die betroffenen Kommunen wieder Land gewinnen sollen, müssen wir das Thema Altschulden angehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ein Weiteres: Meine Damen und Herren, innerhalb der letzten zwölf Jahre gab es eine enorme Entwicklung bei den sozialen Pflichtaufgaben. Das sind keine Aufgaben, die sich eine Stadt oder Gemeinde selbst aussucht, sondern das sind bundesgesetzlich vorgeschriebene Aufgaben, für die wir eine Gesamtverantwortung haben, für die auch der Bund Verantwortung trägt. Ein verfassungsrechtlicher Diskurs und der Hinweis auf die Zuständigkeit der Länder helfen da nicht weiter. Die Ausgaben der Kommunen für soziale Pflichtaufgaben lagen 2005 bei 30 Milliarden Euro. 2017 werden es 54 Milliarden Euro sein.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ihr habt ja draufgesattelt!)
Als Bund haben wir die Verantwortung, sicherzustellen, dass die sozialen Pflichtaufgaben erfüllt werden können. Nicht die Länder, sondern wir als Bund tragen dafür die Verantwortung. An der Entwicklung sieht man doch, dass die Kommunen diese Aufgaben nicht allein bewältigen können.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ihr wart das! Jetzt schlägt es dem Fass den Boden aus!)
Deshalb ärgert es mich so, dass Sie nicht zu Ihrem Wort gegenüber den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten stehen. In der Vereinbarung über den Fiskalpakt stand nicht – das wissen alle, die sich damit beschäftigen –, dass es 2018 5 Milliarden Euro für die Eingliederungshilfe geben wird, sondern da stand drin, dass in dieser Legislaturperiode ein neues Bundesleistungsgesetz zur Eingliederungshilfe erarbeitet wird, das die Kommunen um 5 Milliarden Euro entlastet.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das steht auch nicht drin!)
Man muss immer wieder deutlich sagen, dass diese 5 Milliarden Euro im Moment erst für den Haushalt 2018 etatisiert sind. Da beißt die Maus keinen Faden ab – gucken Sie einfach einmal in den Haushalt –: Für 2018 stehen 5 Milliarden Euro drin. Sie haben den Kommunen diese 5 Milliarden Euro aber für jetzt zugesagt.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein! Das stimmt ja gar nicht!)
Jetzt finanzieren Sie aber nur eine Übergangsmilliarde. Diese Übergangsmilliarde – das gehört auch zur Wahrheit; ich sage das in Richtung Städtetag – wird zur Hälfte über die Kosten der Unterkunft an die Kommunen gegeben – das hilft den armen Städten, den Städten mit Strukturschwäche – und zur Hälfte über die Umsatzsteuer. Innerhalb der Städtegemeinschaft wird nun natürlich darum gerungen, wo es eine wirkliche Entlastung gibt. Aus Sicht der Grünen wäre es bedeutsam, zu sagen: Wir haben kein Geld für das Gießkannenprinzip. Wir wollen uns besonders dem Thema Strukturschwäche widmen und damit den Städten und Gemeinden, die strukturschwach sind.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deshalb ist unser Anknüpfungspunkt ganz klar bei den sozialen Pflichtausgaben; denn Arbeitslosigkeit, Strukturschwäche und hohe Sozialausgaben sind immer miteinander kombiniert. Da hilft es, deutlich zu sagen: Das priorisieren wir. Hier ist Unterstützung notwendig. Deshalb sind Fragen wie die Eingliederungshilfe, die zugesagt war, die Kosten der Unterkunft und die Grundsicherung im Alter, die wir als Bund zu 100 Prozent übernehmen – das ist richtig und gut –, Anknüpfungspunkte, um hier einen Beitrag zu leisten und wirklich Unterstützung zu geben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ein weiterer Punkt ist aus meiner Sicht das Thema Investitionsstau. Wir reden über einen Investitionsstau in Höhe von 132 Milliarden Euro auf der kommunalen Ebene. Deshalb ist es notwendig, von Bundesseite stärker in das Thema einzusteigen. Wir wissen: Die Investitionsquote im Haushalt ist viel zu niedrig, um dieses Thema anzugehen. Wir müssen auch hier Angebote und Anreize für die Kommunen schaffen, damit sie endlich wieder investieren können, in Instandhaltung, in energetische Sanierung und in weitere Bereiche. Ein Stichwort ist schon gefallen: sozialer Wohnungsbau. Diesen brauchen wir zwingend und ganz notwendig in den Städten und in den großen Ballungsräumen. Deshalb wäre hier eine Förderung nicht in Höhe von 500 Millionen, sondern in Höhe von 2 Milliarden Euro richtig.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ihre Bauministerin hat doch auch schon einmal einen Vorschlag dazu gemacht. Das ist richtig und notwendig.
Zuletzt will ich noch kurz etwas zu Flüchtlingen sagen. Wir haben großen Respekt vor dem, was vor Ort in den Städten und Gemeinden geleistet wird:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Sabine Weiss (Wesel I) [CDU/CSU] – Volker Kauder [CDU/CSU]: Jawohl!)
von der öffentlichen Verwaltung, von ehrenamtlich-bürgerschaftlich engagierten Menschen und von THW, ASB, DRK und vielen Hauptamtlichen. Die Arbeit ist ohne sie wirklich nicht zu schaffen. Umso irritierender ist es, dass vonseiten des Bundes heute in den Verhandlungen 3 Milliarden Euro als Unterstützung für die Länder und Kommunen angeboten werden. Angesichts dessen, dass die Kommunen im Bereich der Flüchtlingsbegleitung und -betreuung 1,2 Milliarden Euro ausgeben – das ist die aktuelle Zahl von heute, und das ist doch ein Statement für sich –, sind 3 Milliarden Euro auf jeden Fall zu wenig. Deshalb muss es heute aufseiten des Bundes Bewegung geben. Wir müssen Geflüchteten und Kommunen unsere Unterstützung anbieten.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)